Gedanken über Malerei

Der Standpunkt
Der Standpunkt eines Malers ist der Punkt, auf dem der Maler beim Malen steht. Es ist ein weltanschaulicher Standpunkt, weil er von diesem Punkt aus die Welt anschaut. Geht er ein paar Schritte nach links oder rechts, bekommt er jeweils einen anderen Stand-
punkt und somit auch eine andere Weltanschauung.
Die Behendigkeit seiner Füße eröffnet ihm eine unendliche Vielfalt von Standpunkten und Anschau-
ungen. Sucht er in dieser Vielfalt ein Motiv, das er gestalten will, so wird diese Auswahl automatisch begrenzt durch seine persönlichen Vorlieben und Fähigkeiten, sowie durch Raum und Zeit und die Erschöpfbarkeit seiner Arbeitskraft.
Bewußt oder unbewußt findet er den Punkt, wo die Außenwelt am günstigsten mit seiner Innenwelt korrespondiert. Der Schnittpunkt beider Welten ist der Standpunkt des Malers. Ähnlich ist die sichtbare Welt lediglich der schmale Grat zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos. Bei der Gestaltung der sichtbaren Welt befindet sich der Maler immer im Reich der Mitte.

Das Sehen
Der Mensch sieht mit seinen Augen zwei Bilder, die durch die Pupillen ins Innere der Augen gelangen und dort verkehrt herum von der Netzhaut wahrgenommen werden. Durch einen geradezu akrobatischen Akt  des Gehirns werden diese zwei Bilder in eines verwandelt und dabei gleichzeitig vom Kopf auf die Füße gestellt. Es handelt sich hier nicht um ein passives Wahrnehmen der Außenwelt sondern um das energische Agieren unseres egoistischen Selbst, das gewohnt ist, die Dinge nach eigenem Gutdünken zu sehen und zu handhaben. Wie wichtig und unentbehrlich uns dieses psychische Zentrum unserer Wahrnehmung ist, zeigt sich erst, wenn es vorübergehend außer Kraft gesetzt wird. Bewirkt durch einen Faustschlag oder durch ein Übermaß an Alkohol fangen wir an, die Dinge objektiv richtig zu sehen, nämlich doppelt und verdreht.

Der Gegenstand
Gute Malerei malt nicht den Gegenstand sondern die Luft um den Gegenstand herum. Da die Luft selbst auch ein Gegenstand ist, so handelt es sich nicht um gegen-
standslose Malerei. Erst wenn der Malerei die Luft ausgeht, fängt sie an, gegenstandslos zu werden, 
unabhängig davon, ob sie nun formal Gegenstände zum Thema hat oder nicht. Die gegenstandslose Malerei ist demnach eine Malerei ohne Luft. An und für sich braucht die Malerei den Gegenstand, da sie um ihn herum ihre Luft zum Atmen findet.

Der Stil
Der Stil ist eine Chiffre oder ein Code, der dem Maler hilft, die Wirklichkeit zu erfassen. Der Stil hat unter-
schiedliche Phasen. Eine archaische, eine klassische und eine manierierte. In der archaischen Phase über-
wiegt der innere Code des Künstlers, der heißt der stilbildende Wille unterwirft sich die Wirklichkeit mehr oder weniger hemmungslos. In der klassischen Phase dringt die Wirklichkeit in gleichem Maße in das Werk des Künstlers ein, wie er mit seinem stil-
bildenden Willen in die Wirklichkeit eindringt. Die Wirklichkeit und der Stil erreichen ein glückliches Gleichgewicht. Auf diese Weise ist der Begriff der Harmonie in der Kunst entstanden. 
In der manierierten Phase gibt es zwei Möglich-
keiten. Erstens: Die Wirklichkeit übermannt mit ihren unzähligen Offenbarungen die stilbildende Kraft des Künstlers und es kommt zu einem unkoordinierten Chaos. Zweitens: Der Künstler klammert von vorn-
herein wesentliche Aspekte der Wirklichkeit aus und erprobt an dem erwählten Rest seinen Stil, den man in diesem Falle einen manierierten nennt. In beiden Fällen kommt es zu keinem echten Stil. Im ersten Fall wird der Stil zugeschüttet und überschwemmt. Im zweiten Fall fehlt die unvoreingenommene Einstellung zur Wirklichkeit, die zur Stilbildung unerläßlich ist. Es ist nicht die Aufgabe der Kunst, die Wirklichkeit zu moderieren. Das machen die Politiker. Es geht auch nicht darum, die Wirklichkeit als Wirklichkeit zu erfassen. Das ist Sache der Philosophen. Der Künstler hat die Aufgabe, mit Hilfe der Wirklichkeit Kunst zu machen. Das erfordert ein voraussetzungsloses Herangehen an die Wirklichkeit als ein Phänomen, welches in sich eine unendliche Anzahl weiterer Phänomene birgt. Dabei ist es gleichgültig ob es das naive Zupacken des archaischen Stils ist, der in kindlicher Entdeckerfreude an die Wirklichkeit herangeht, oder ob es sich um das reife Wissen des klassischen Stils handelt, dem die kolossale Komplexität der Wirklichkeit bewußt ist. Zwei Beispiele: Morandi malte Zeit seines Lebens fast ausschließlich Töpfe. Für ihn waren diese Töpfe ein Phänomen, das ihn die Wirklichkeit erfassen ließ. So kam er zu seinem Stil. Salvador Dali hat das unglaub-
lichste Zeug gemalt. Sein ganzes Werk ist gewisser-
maßen eine einzige Koketterie mit der Unglaub-
würdigkeit. Die Unglaubwürdigkeit setzt Glauben voraus. Wo etwas vorausgesetzt wird, gibt es kein voraussetzungsloses Herangehen an die Wirklichkeit, wird die Wirklichkeit als Wirklichkeit nicht erfaßt. Da das Erfassen der Wirklichkeit bei der Arbeit des Künstlers das stilbildende Element ist, bleibt im Falle Dali nur eine Schlußfolgerung: Er hatte keinen.

 

Unterschrift von Walter Lauche